21. Januar 2021
Umgang mit Ungewissheit
Wir befinden uns nun schon seit Monaten in einer ausserordentlichen Zeit. Von den bewährten Routinen mussten wir Abschied nehmen. Schon nach der ersten Corona-Welle sollten wir uns doch daran gewöhnt haben, nicht sicher zu wissen was die ergriffenen Massnahmen bewirken. Doch dem ist mitnichten so. Weshalb ist der Umgang mit Ungewissheit so schwierig für uns?
Weshalb darf weiter in der Parfümerie aber nicht mehr im Kleidergeschäft eingekauft werden? Warum durfte auf dem Schiff noch Essen serviert werden, als die Restaurants längst schliessen mussten? Die Corona-Massnahmen sind nicht für alle nachvollziehbar.
Wir sehnen uns nach eindeutigen Antworten und dem einen richtigen Weg. Schnell geschieht es, dass wir in gut oder schlecht, richtig oder falsch einstufen. Meist sind die Zusammenhänge jedoch komplexer und die Lösungen müssen differenzierter betrachtet werden.
Der Umgang mit Ambiguität, also mit Mehrdeutigkeit, ist für viele schwierig. Gewisse Menschen können sie jedoch gut ertragen. Sie erleben es gar als bereichernd, die gleiche Situation sowohl von der einen als auch von der anderen Seite zu betrachten. Sie besitzen die Fähigkeit der Ambiguitätstoleranz.
Wir sind alle ständig mit Mehrdeutigkeit konfrontiert
In der aktuellen Pandemie zeigt sich der eigene Umgang mit Ambiguität sehr deutlich, da wir aus den gewohnten Mustern ausbrechen und umdenken müssen. Doch auch im Alltag kennen wir diese Momente. Können wir die Nachbarn nicht ausstehen, weil sie so laut sind oder mögen wir sie, weil sie immer nett grüssen? Hassen wir es mit dem Zug zu fahren, weil er ständig voll ist oder schätzen wir es, chauffiert zu werden?
Solche widersprüchlichen Gedanken hatten wir bereits als Kinder. Grundsätzlich liebten wir unsere Eltern, aber in manchen Situationen nervten sie uns gewaltig. Für eine Studie befragte die Psychologin Else Frenkel-Brunswik viele Kinder und entdeckte so zufällig die Ambiguitätstoleranz. Sie erlebte gewisse Kinder, die von ihren Eltern Positives als auch Negatives berichteten und gut damit umgehen konnten. Andere Kinder stellten ihre Eltern als nur gut oder nur schlecht dar.
An diesem Beispiel zeigt sich, dass den Menschen mit einer tiefen Ambiguitätstoleranz etwas verloren geht. Wer sich radikal für eine Sichtweise entscheidet macht es sich zwar leicht, dabei verliert er aber viele weitere Aspekte der Realität aus den Augen. Die umfassende Betrachtung allerdings bringt weitere Möglichkeiten mit sich und damit auch weitere Lösungen.
Die gute Nachricht ist, Ambiguitätstoleranz ist lernbar
Wer dies als Kind gelernt hat ist im Vorteil. Wer zu Schwarz-Weiss-Denken neigt und Mühe mit den Grautönen hat, kann dies lernen. Statt wie bisher, vorschnell eine Seite zu wählen, können künftig die diversen Sichtweisen angehört und reflektiert werden. Dies setzt eine möglichst genaue und neutrale Erfassung der Situation voraus. In einer Studie zeigten Wissenschaftler, dass Personen mit einer höheren Achtsamkeit einen besseren Umgang mit Ambiguität erkennen liessen.
Was heisst das für die aktuelle Lage?
Für die aktuelle Situation bedeutet es, dass es im Umgang mit der Pandemie nicht den einen richtigen Weg gibt. Die Aspekte mancher Virologen sind nicht die gleichen, wie die mancher Unternehmer. Deswegen hat nicht einer recht und der andere unrecht – es gilt das Sowohl-als-auch. Wir sollten also nicht voreilig Schlüsse ziehen, sondern uns die umfassenden Argumente neutral anhören und reflektieren. Wir werden weiter mit der Ungewissheit leben müssen. Wer die Pandemie und die kontroversen Diskussionen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz beobachtet, wird dies als bereichernd und erleichternd erleben.
Literatur:
- Frenkel-Brunswik, E. (1949). Intolerance of ambiguity as an emotional and perceptual personality variable. Journal of Personality, 18, 108–143. doi.org/10.1111/j.1467-6494.1949.tb01236.x
- Ie, A., Haller, C. S., Langer, E. J. & Courvoisier, D. S. (2012). Mindful multitasking: The relationship between mindful flexibility and media multitasking. Computers in Human Behavior, 28(4), 1526-1532. doi: 10.1016/j.chb.2012.03.022
Fotos: Kirk Wheeler und Jon Tyson, Unsplash